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Schuberts Winterreise


(Bühnen- und Kostümbild)
Eine komponierte Interpretation von Hans Zender, Musikalische Leitung: Robert Reimer
Inszenierung: Jasmina Hadziahmetovic, Video: Frieder Aurin
Grand Théâtre Luxemburg
Premiere: 19.01.2016






Frankfurter Allgemeine, 22.01.2016 von Jan Brachmann

Mit dem Leiermann zurück ins Leben

In Coburg und Luxemburg wird die „Winterreise“ von Hans Zender nach Franz Schubert szenisch gedeutet

Schartig-zart schabt der Bogen über die Saiten, nah am Steg: Dieser Lindenbaum ist ratzekahl, als die kalten Winde dem Winterwanderer die Wangen gerben. Roland Kluttig, Generalmusikdirektor am Landestheater Coburg und einer der fähigsten Dirigenten, die unsere Republik zu bieten hat, malt mit seinem hellwachen, schlafwandlerisch sicheren Orchester keine Bilder. Er zeichnet sie. Mit spitzem Stift: fein, scharf, exakt. Das gespenstische Geäst des Lindenbaums. Zuvor schon die schlundigen Strudel wirbelnder Flocken in den Klarinetten der „Erstarrung“. Da sucht der Wanderer nicht nur im Schnee vergebens nach seiner Liebsten Spur. Da zieht ihn ein Mahlstrom in die Tiefe. „Komm unter meine Decke“, gurgelt der Schnee, dieser weißlich-weiche Verführer. Nichts ist grell, bullig, roh an der Musik in Coburg, auch die jähen elektronischen Verstärkungen der Stimme von David Zimmer nicht. Aber alles sitzt. Die Zeichen stimmen: die Lebensschrammen der Klänge tragen die richtigen Herkunftsnachweise.
Musikalisch wird durch Kluttigs Dirigat sofort plausibel. warum Hans Zenders „komponierte Interpretation“ des Liederzyklus „Die Winterreise“ von Franz Schubert seit ihrer Entstehung 1993 zum Erfolgsstück geworden ist. Nicht, weil sie gegen „Frack und Flügel als fragwürdige Darbietungsform“ radikaler Außenseitererfahrungen zu Felde zieht. An solchen Äußerlichkeiten den Rang und die Angemessenheit einer Interpretation festmachen zu wollen wäre reichlich kunstfern und dünkelhaft. Durchgesetzt haben das Stück vielmehr Zenders orchestrale Virtuosität und Phantasie.
Sie bringen explizite Klangbilder für das hervor, was das Publikum seit Jahren schon innerlich sah, wenn es die originale Fassung Schuberts für Stimme und Klavier hörte. Mehrere Tanztheaterversionen dieser „Winterreise“ hat bereits gegeben: von Heidrun Schwaarz, Hans Henning Paar und John Neumeier; im Klavieroriginal oder im Streichquartett-Arrangement regte der Zyklus Regisseure wie Herben Wernicke, Michael Thalheimer oder Christian Marien-Molnar zu Musiktheaterabenden an. Aber szenische Umsetzungen von Zenders Fassung für einen singenden Protagonisten suchte man bislang vergebens.

Völlig unabhängig voneinander, nur im Abstand von drei Tagen, kamen jetzt zwei höchst unterschiedliche Sichtweisen auf die Bühne: am Landestheater Coburg, inszeniert vom dortigen Intendanten Bodo Busse, und am Grand Theatre Luxembourg, inszeniert von Jasmina Hadziahmetovic. Busse gibt in Coburg dem jungen Tenor David Zimmer drei stumme Protagonisten zur Seite: einen Doppelgänger (Dominik Tippelt), einen älteren Mann (Manfred Völk) und eine ältere Frau (Christa Fedder). Er braucht diese drei Mitmenschen, um zu zeigen, dass der Winterwanderer seinen Weg ins Abseits selbst wählt. Barsch weist er die Zuwendung der anderen zurück. Seine Wanderung ist eher romantisch-autonomer Entwurf als Erfahrung fremdbestimmter Geworfenheit. Mit seinem bürgerlich-vernünftigen Doppelgänger ringt er. Die ältere Frau und der ältere Mann könnten für die Eltern stehen, die ihrem Sohn die Zuwendung nicht zur rechten Zeit schenkten. Zugleich aber steht die ältere Frau -Christa Fedder war Tänzerin- sie ist jetzt sechsundachtzig Jahre alt – auch für die verlassene Geliebte des Wanderers. Im „Frühlingstraum“ tanzt sie mit hinreißendem Leuchten im Gesicht einen Walzer voll froher Erwartung, die sich nicht erfüllen wird, Der Wanderer lässt sie sitzen. Die Bühne von Karlheinz Beer mit kahlen Bäumen, Tisch, Stühlen und -auch das noch- einem Kühlschrank unter freiem Himmel wendet romantische Bilder ins Surreale und spielt so mit dem ineinander von Innerlichkeit und Unbehaustheit in diesem Zyklus.
In Luxemburg hat sich Jasmine Hadziahmetovic von Hella Prokoph einen klinisch weißen Bungalow aus Blechlamellenwänden bauen lassen. Mittendrin ein Bett, in dem Julian Pregardien das erste Lied -„Gute Nacht‘- liegend, im Schlaf zuckend, singt. Er bleibt als Darsteller ganz allein. Video-Projektionen von Frieder Aurin versetzen den Sänger beim „Lindenbaum‘ auf eine Großstadtkreuzung, Autolichter gleiten über nassen Asphalt: „Nun bin ich manche Stunde entfernt von jenem Ort.“ Und wenn es im Lied „Im Dorfe“ von den Menschen heißt: „Träumen sie manches, was sie nicht haben, tun sich im Guten und Argen erlaben‘, sieht man die Massen mit Einkaufstüten vordem Kaufhaus am Berliner Alexanderplatz. An die Stelle romantisch-ländlicher Klischees von Hunden, Krähen und Bäumen treten nun modern-urbane, allerdings mit stilsicherem Chic ins Bild gesetzt. Verblüffenden Witz gibt es auch. Zur Zeile „Der Reif hat einen weißen Schein mir übers Haar gestreuet“ setzt sich Pregardien den Brautschleier der verflossenen Geliebten auf, den er dann zum Gesang der „Krähe“ zerrupft. Der Tüll fliegt wie Federflaum.
Charakterfest, konditionsstark und geradlinig singt David Zimmer in Coburg. Julian Pregardien in Luxemburg wirkt dagegen wandlungsreicher. Schöne, süße Phrasen gelingen ihm genauso wie ein ersterbendes Flüstern im Liegen. Eine Strophe im Lied „Auf dem Flusse“ singt er als Pop-Song mit lässigem Fingerschnipsen im Off-Beat. Allerdings ist das Zusammenspiel innerhalb der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken-Kaiserslautern unter der Leitung von Robert Reimer nicht immer ganz genau. Und das Solohorn in der „Wasserflut“ liegt so konsequent neben dem Ton, dass man hier gestalterische Absicht vermuten möchte. Kluttig in Coburg hat solche groben Mittel zur Beschreibung des beschädigten Lebens allerdings nicht nötig.
Als Regisseur erfasst Busse das nonlineare Erzählen der „Winterreise“ mit ihren biographischen Vor- und Rückblenden sehr schön, lässt aber den Abend ins russische Roulette mit dem Trommelrevolver münden, was eher traditionelle Erwartungen erfüllt.
Hadziahmetovic, weniger romantisch in ihrer metropolitanen Bilderwelt, spitzt den Abend zielstrebig auf das Grab im eigenen Bett zu, überrascht dann jedoch mit ihrer Schlusspointe: Zum „Leiermann“ verschmilzt Pregardien mit dem Schatten seines Doppelgängers. Er überwindet seine Todessehnsucht und findet -singend- den Ausweg ins Leben. Die Produktion wandert später an die Opera Comique nach Paris.

Das Opernglas, 19.Januar 2016 von M. Fiedler

Winterreise

Orchesterfassungen von Schu­bert-Liedern sind keine Seltenheit. Die bekanntesten sind wohl die von Max Reger, aber auch Franz Liszt, Johannes Brahms, Hector Berlioz und Anton Webern haben mehrere Lieder von Franz Schubert orchestriert. An die »Winterreise« als geschlossenen Zyklus aber hatte sich kein Komponist heran­gewagt, bis 1993 Hans Zender sei­ne „komponierte Interpretation“ des Liederabendes herausbrach­te, uraufgeführt in Frankfurt am Main vom Ensemble Modern und Christoph Pregardien. Zenders Fassung lässt den Gesangspart überwiegend unangetastet, verar­beitet die Klavierstimme allerdings zu einem schillernden Orchester­part, der sich sehr schnell in den Konzerthäusern etabliert hat und heute selbst Puristen begeistert.
Es liegt nahe, dass eine solche Orchesterfassung besonders bei szenischen Umsetzungen auf das Interesse der Theaterbühnen stößt. Interessanterweise kamen Mitte Januar innerhalb von einer halben Woche gleich zwei unab­hängige szenische Produktionen der »Winterreise« heraus, die bei­de auf die Zender-Fassung zurück­griffen. Das Landestheater Coburg zeigte die Neuinszenierung seines Hausherrn Bodo Busse mit Roland Kluttig am Pult. In Luxemburg feier­te am Großen Theater die Produk­tion der in Deutschland lebenden Bosnierin Jasmina Hadziahmeto­vic Premiere – eine Koprodukti­on mit dem Königlichen Theater in Kopenhagen und der Pariser Opera Comique. Das Stadtthea­ter Luxemburg hatte zwei Monate zuvor bereits William Kentridges Sicht der»Winterreise« als „Trio für Sänger, Pianist und Filmprojektor“ mit Matthias Goerne und Markus Hinterhäuser gezeigt.
Die neue Zender-»Winterreise« spielt im steril weißen Einheits­bühnenbild von Hella Prokoph: einem Bungalov, dessen Wände sich mit Hilfe von Jalousien belie­big öffnen und schließen können. Darin befindet sich eine Liegeflä­che, die sich mal in ein Bett, mal in ein Grab verwandeln lässt. Jasmi­na Hadziahmetovics Inszenierung ist die Geschichte eines Mannes, der sich nach dem Verlust seiner Geliebten in der Wirklichkeit nicht mehr zurechtfindet. Er flüchtet – in die Phantasie, die Träumerei, die Sehnsucht, vor allem in die Einsamkeit. Einen echten Linden­baum gibt es auf der kahlen Bühne, die den Mann immer wieder mit ihren hoch- und runterfahrbaren Lamellen in die Enge treibt, nicht. Stattdessen versetzt ihn der Video-­Künstler Frieder Aurin in den Ver­kehr einer anonymen Großstadt. Die Produktion schwankt zwischen krudem Realismus und sensibler Poesie. Von Totenlichtern geführt (,,Auf einen Totenacker, hat mich mein Weg gebracht“), findet die Figur schließlich den Weg zum wunderlichen alten Leiermann und somit aus dem Bungalow hinaus. Schuberts Lieder sind, jedes für sich, in- sich geschlossene Minia­turdramen, und doch gewinnt der Zyklus mit Hilfe dieser gefühlvol­len Inszenierung sehr schnell an Konturen.
Auf der Bühne agiert Julian Pregardien, interessanterweise der Sohn des Sängers der Urauf­führung. Sein Vortrag ist stilvoll und kultiviert; sorgfältig erfüllt er jede Phrase der einze]nen Lieder mit Sinn und Tiefgang. Die Stim­me fügt sich ein in den Hand­lungsstrang, wirkt hier weich und schüchtern, dort entschlossen und ausdrucksvoll. Dank der vielen Nuancen, die den Gesang des Tenors durchziehen, gewinnt die interpretierte Figur stark an Profi! und Glaubwürdigkeit.
Hinter dem Bühnenbild ist das Orchester platziert: die Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern. Zwischen 1971 und 1984 war Hans Zender selbst Chef­dirigent des Vorgänger-Klangkör­pers – des Rundfunk-Sinfonieor­chesters Saarbrücken – gewesen. Nun steht Robert Reimer am Pult, dem es gelingt, die Partitur mit all ihren Feinheiten, ihrer Rhythmik und Virtuosität zum Ausdruck zu bringen, ohne auf unangebrachtes Pathos zurückzugreifen. Ein großer Erfolg für das gesamte Team, vor allem aber für Julian Pregardien.

Luxemburger Wort, 22.01.2016 von Isabelle Trüb

Une «Winterreise» innovante

Un nombreux public s’est donné rendez-vous au Studio du Grand Theatre, mardi et mercredi soir derniers, à l’occasion de la création d’une version pour ténor et orchestre, signée Hans leader, du célèbre cycle de 24 lieder «Die Winterreise», de Franz Schubert. Le jeune ténor allemand, Julian Prégardien, y a tenu le râle du voyageur, accompagné par un imposant ensemble instrumental composé de membres de l’orchestre „Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken-Kaiserslautern“, sous la direction de Robert Reimer.
Alors que les musiciens et leur chef – installés derrière la scène proprement dite- , restaient omniprésents du point de vue acoustique, ruais la plupart du temps dissimulés aux regards des spectateurs, le chanteur a évolué sur une spacieuse estrade blanche, sur laquelle trônait un socle qui, servant tout d’abord de lit, s’est transformé en sombre tombeau. Au-dessus de cet astucieux plateau à la décoration sobre, un plafond discret abritait un système ingénieux de stores à lamelles réglables qui, tout en délimitant physiquement l’espace scénique, ont permis de multiples effets visuels et ont servi de support idéal pour la projection de vidéos et les jeux d’ombres.

Une imagination débordante, une écriture épurée
Face à la partition originale de Schubert, dont l’écriture reste somme toute assez épurée et transparente, Hans Zender a fait preuve d’une imagination débordante, allant jusqu’à priver te chanteur de mélodie, le contraignant par moments à déclamer son texte, confiant ta phrase musicale à un instrument. Zender s’est plu à aligner un accompagnement orchestral d’une variété étonnante, créant des associations de timbres parfois pré-visibles (cor, trompette, bois,
harpe, cordes), parfois totalement inattendues (percussions, mélodica, accordéon…), évitant toutefois soigneusement de faire intervenir le piano, instrument de prédilection de Schubert. De nombreux ajouts musicaux ont été proposés, que ce soit sous forme d’introduction au cycle, de ponts sonores entre les atmosphères des différentes chansons, ou encore d’effets de bruitage. Maints décalages volontaires sont intervenus par rapport à la partie vocale, offrant des progressions harmoniques tendues ou, comme l’ont plus clairement démontré les derniers titres du cycle, des chevauchements rythmiques d’une complexité croissante.
Une telle richesse d’écriture n’a certes pas facilité la Liche de Julian Prégardien, qui s’est adapté sans hésiter aux exigences de la partition et de la mise en scène, déployant des ressources vocales et physiques remarquables. Bénéficiant d’une excellente présence scénique, le soliste
a exécuté un tour de force impressionnant et a pleinement con-vaincu le public. Si la superposition des nombreux instruments a parfois alourdi la texture orchestrale et malmené l’équilibre entre la partie soliste et l’accompagnement, le chanteur a habilement profité des passages plus doux pour permettre à sa sensibilité d’illuminer tel ou tel détail, démontrant un sens du style certain et offrant des changements d’atmosphère aussi raffinés qu’émouvants.
Une mise en scène inspirée, signée Jasmina Hadziahmetovic, a permis aux spectateurs d’apprécier pleinement le discours musical et de se plonger sans effort dans les multiples univers visuels évoluant à un rythme organique. Délaissant volontairement toute superposition ou surcharge inutiles, les nombreux enchaînements se sont déroulés sans heurts et, bien que fortement contrastés, n’ont jamais semblé agressifs.