Stützen der Gesellschaft
Maria Magda
Der Chor
Das siebte Kreuz
Die bitteren Tränen der Petra von Kant
Werther
Konsens
Kleiner Mann was nun
Acts of Goodness
Bluthochzeit
Schuberts Winterreise
Ödipus Stadt
Noahs Flut
Michael Kohlhaas
Prinz Friedrich von Homburg
Mein junges idiotisches Herz

Die Wiedervereinigung der beiden Koreas


(Bühnenbild)
Text: Joël Pommerat, Regie: Brit Bartkowiak,
Kostüme: Carolin Schogs, Musikalische Leitung: Joe Masi
Theater Ingolstadt, Kleines Haus
Premiere: 02.10.2016

Donaukurier, 04.10.2016 von Anja Witzke
Die große Vergeblichkeit

„Wir könnten uns vielleicht umarmen, wenn Sie möchten“ Mädchenhaft klingt diese Stimme. Ein bisschen kokett. Ein bisschen schüchtern. Hilflos. Ängstlich. Dabei ist die Frau nicht mehr jung. Und die Frage geht an ihren Ehemann. Sie hat vergessen, dass er ihr Ehemann ist. Wie er heißt. Dass sie Kinder haben. Wie es sich anfühlt, von ihm umarmt zu werden. Sie ist dement. Und auch wenn er ihre stets wiederkehrenden Fragen zunehmend genervt beantwortet, gibt es doch einen Moment der Zärtlichkeit – als er sich an ihre Liebe erinnert, wie sie zu Beginn ihrer Beziehung war. Äonen entfernt von dieser Krankheit, die die Vergangenheit auffrisst.

Komplizierte Beziehungsgeflechte: Yael Ehrenkönig, Ralf Lichtenberg, Mira Fajfer, Matthias Zajgier und Victoria Voss in Joel Pommerats Liebesreigen unter der Regie von Brit Bartkowiak.
Es ist der berührendste Moment in Brit Bartkowiaks Inszenierung. Sie hat Joel Pommerats abgründiges Kaleidoskop der Liebe mit dem sperrigen Titel „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ im Kleinen Haus des Stadttheaters Ingolstadt in Szene gesetzt. Dort, wo auch schon ihre Fassung von „In meinem Alter rauche ich immer noch heimlich“ stürmisch gefeiert wurde. Auch am Sonntagabend gab es großen Jubel für ihre neue Arbeit.

Pommerat hat Miniaturen über die Unmöglichkeit der Liebe aneinandergereiht – ein bisschen Arthur Schnitzler, ein bisschen Woody Allen: Eine Hochzeit platzt, weil plötzlich ans Licht kommt, dass der Bräutigam schon Affären mit Schwestern, Mutter und Bruder hatte. Ein Lehrer gesteht die Liebe zu seinem Schüler. Ein Ehepaar erfindet sich Kinder, um die Leere des Daseins zu ertragen. Eine Prostituierte bietet sich zu Schleuderpreisen an. Wir sehen immer nur Momentaufnahmen in diesen Beziehungsvariationen, die mal von stiller Verzweiflung, mal von großer Trauer, mal von surrealer Komik durchsetzt sind. Der Autor hat den Kontext seiner Geschichten absichtsvoll im Ungefähren belassen.
Das bietet viel Spielraum für die Regie. Und Brit Bartkowiak nutzt ihn, um mit großem Erfindungsreichtum diesen irrlichternden Reigen von Sehnsucht, Begehren, Verbundenheit, Kränkung und dem Abhandenkommen der Liebe zu inszenieren – vom durchgeknallten Slapstick über den Psychokrimi bis zum berührenden Melodram.

Dafür braucht sie vor allem ein wandelbares Ensemble. Und das hat sie: Jeder der acht (Ingrid Cannonier, Yael Ehrenkönig, Mira Fajfer, Victoria Voss, Olaf Danner, Ralf Lichtenberg, Béla Milan Uhrlau, Matthias Zajgier) wechselt mit Leichtigkeit und Spielfreude die Figuren, lotet immer wieder aufs Neue die Untiefen der emotional Versehrten aus. Mit Furor und Klugheit, abgründigem Witz und mysteriösem Schmerz, zärtlich und brachial, bitter und abgefeimt. Und in immer neuen Kostümkreationen (Carolin Schogs). Den größten Beifall bekommen am Schluss aber Ingrid Cannonier, die nicht nur als demente Frau anrührt, sondern als betrunkene Brautmutter zu komödiantischer Höchstform aufläuft, Mira Fajfer für ihre so rätsel- wie geisterhaft abgekämpften Geschöpfe und Béla Milan Uhrlau, der sich so herrlich an der Ambivalenz seiner Figuren abarbeitet. Aber eigentlich glänzt hier jeder – allein und erst recht in all den so komplizierten wie komplexen Beziehungen. Und Brit Bartkowiak bereitet ihrem Ensemble dafür eine wunderbare Bühne.

Von Hella Prokoph hat sie sich eine Drehscheibe ins Kleine Haus bauen lassen, die nicht nur den Kreislauf des Lebens symbolisiert, sondern auch Tempo, Richtung und Rhythmus (Musik: Joe Masi) vorgibt. Und weil es oft um Aufbruch geht, um Neuanfang, um Gepäck in jedweder Form, um Unbehaust- oder Begrenztheit (auch im Denken), gibt es außerdem jede Menge Umzugskartons, die Räume definieren, mal zur Mauer geschichtet werden, dann wieder eingerissen und umsortiert oder zu Stolperfallen werden.
Nichts ist, wie es scheint. Schon gar nicht die Liebe. Brit Bartkowiak spielt mit Erwartungshaltungen und bricht sie, mischt Albernheiten mit Tiefe, Absurditäten mit Existenziellem und bindet geschickt die Szenen mit dem einzigen roten Themenfaden der Liebe (oder ihrer Vergeblichkeit) aneinander. Das ist Herzschlagtheater, das lange nachhallt.

Augsburger Allgemeine, 05.10.2016 von Michael Kleinherne
Manchmal reicht die Liebe nicht
Furios inszeniertes Episodenstück zeigt die Liebe in allen Facetten

Ein Paar ohne Kinder erfindet welche, weil es nur so eine „eigene Identität“ hat. Ein Sportlehrer behauptet, er schenke seinen Schülern „Liebe und Zuneigung“ und muss sich deshalb verteidigen. Ein Ehepaar verliebt sich jeden Tag neu, weil die Frau ihr Gedächtnis verloren hat.
In mehr als einem Dutzend kurzen Episoden fragt das Stück „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ des französischen Dramatikers Joel Pommerat danach, was uns die Liebe heute wert ist. Unter der Leitung von Brit Bartkowiak schließt sich das Stadttheater in einer furiosen Inszenierung dieser Frage an.

Die Bühne im Kleinen Haus ist von Hella Prokoph einfach, aber wirkungsvoll bestückt: Pappkartons bilden eine Mauer, die sich beliebig einreißen und wieder aufbauen lässt. Davor schlüpfen die acht allesamt großartigen Schauspieler in unterschiedlichste Rollen. Olaf Danner ist der komisch-verklemmte Liebhaber, der für einen Toten (Ralf Lichtenberg) verlassen wird, Mira Fajfer die neurotische Schwester einer verwirrten Braut (Veronica Voss), die die Hochzeit mit dem schmierigen Bräutigam (Matthias Zajgier) platzen lässt. Bela Milan Uhrlau spielt den Sportlehrer, bei dem nicht klar wird, ob er seine Schüler wirklich liebt oder doch nur missbraucht. Yael Ehrenkönig rührt als Schwererziehbare, die diesmal nicht abtreiben will, weil sie den Erzeuger doch liebt, während Ingrid Cannonier die durchtriebene Sekretärin spielt, die vom Opfer zur Erpresserin wird.
„Die Liebe ist sozialer Sprengstoff und sozialer Klebstoff zugleich“, hat ein kluger Mann einmal geschrieben, Pommerats Stück zeigt dies in allen Facetten. Mal ist die Liebe unglaublich absurd, mal macht sie tieftraurig, dann wieder ist sie so komisch, dass man nur den Kopf schütteln kann. Schließlich berührt sie tief, reicht aber nicht aus. Dies alles bringen Regie, Schauspieler und das restliche Team in einer etwas gekürzten, teils auch leicht veränderten Version grandios auf die Bühne. Und so gibt es am Ende dieser Premiere einen langen verdienten Applaus.