Stützen der Gesellschaft
Maria Magda
Der Chor
Das siebte Kreuz
Die bitteren Tränen der Petra von Kant
Werther
Konsens
Kleiner Mann was nun
Acts of Goodness
Bluthochzeit
Schuberts Winterreise
Ödipus Stadt
Noahs Flut
Michael Kohlhaas
Prinz Friedrich von Homburg
Mein junges idiotisches Herz

Mord auf dem Säntis

(Bühne und Kostüme)
Oper von Friedrich Schenker und Noldi Alder
Libretto: Prof. Dr. Christoph Nix
Musikalischer Leiter: Arne Willimczik
Regie: Jasmina Hadžiahmetovic
Premiere: 04.06.2011 auf dem Säntis-Gipfel (Schweiz)







Züricher Zeitung (NZZ), 09.06.2011 von Jürg Huber

Überfülle und Expressivität

„Mord auf dem Säntis“ als Kammeroper
Ausgesprochen lieblich präsentiert sich das Appenzellerland mit seinen saftiggrünen Hügeln und den schmucken „Hemetli“. Schroff hebt sich dahinter die erste Kalkkette des Säntismassivs ab. Im weitläufigen und geheizten Komplex der Bergstation der Säntisbahn ist jedoch nur zu ahnen, wie einsam und entbehrungsreich ein Winter auf der alten Wetterstation war, der dem Wetterwartpaar Heinrich und Helena Haus im Februar 1922 zum Verhängnis wurde. Die Geschichte ihrer Ermordung wühlte damals die Gemüter auf und ist bis heute im kollektiven Gedächtnis haften geblieben.

Der Librettist auf Spurensuche
Vor rund zwanzig Jahren war die dramatische Begebenheit Grundlage für Markus Imhoofs Filmdrama „Der Berg“; nun ist sie Stoff für die einstündige Kammeroper „Mord auf dem Säntis» geworden, die das Theater Konstanz im Rahmen des Bodenseefestivals produzierte und die unweit des Tatortes im Panoramasaal des Säntisrestaurants Premiere hatte.
Christoph Nix, Intendant des Konstanzer Theaters und Jurist, hat sich dafür nochmals auf Spurensuche gemacht, hat Gerichtsakten studiert und Indizien gesammelt. Den Fall aufklären konnte auch er nicht, denn der mutmassliche Mörder Gregor Anton Kreuzpointner hatte sich durch Suizid der Justiz entzogen. Aber er konnte Geschichten erfinden, und als Librettist tat er dies nicht zu knapp. In brechtschem Duktus verbindet Nix Privates und Politisches, Zeitgeschichte und Allzumenschliches.
Für die Überfälle an Motiven findet die Regisseurin Jasmina Hadziahmetovic zusammen mit der Ausstatterin Hella Prokoph prägnante Bilder, etwa wenn die in der Oper Maria Magdalena genannte Frau des Wetterwarts sich zur Pietà wandelt oder der Mörder in den Armen des offenbar unvermeidlichen Sennentuntschis stirbt. Musikalisch entpuppt sich die „Klassik Night“, wie die Kammeroper von der Säntishahn beworben wird, als ein anspruchsvolles Gemisch von Stilen und Klängen zweier Komponisten, deren künstlerische Sozialisation unterschiedlicher nicht sein könnte: hier der am Fusse des Säntis lebende Noldi Alder aus der berühmten Volksmusikdynastie, dem das traditionelle Korsett zu eng geworden ist, dort der in der DDR aufgewachsene Friedrich Schenker, Meisterschüler von Paul Dessau, für den Politik und Musik nicht zu trennen sind. Sie haben denn auch nicht gemeinsam komponiert, sondern einzelne Abschnitte des Librettos jeweils eigenständig vertont. Wenn Alder zuweilen einen an Schubert und Brahms gemahnenden Wehmutston anschlägt, antwortet ihm Schenker mit den Dissonanzen des 20. Jahrhunderts. Appenzellisches hat seinen Platz- der Naturjodel, den Alder beim Hereintragen von Kreuzpointners Leiche in der ersten Szene intoniert. fährt mitten ins Herz-, wirkt jedoch nie anbiedernd, sondern ist in eine äußerst expressive Dramaturgie eingebunden, die die Gräben zwischen den Musiksprachen überraschend leicht überbrückt.

Überzeugende Interpretation
Ebenso intensiv entwickelt sich das Beziehungsdrama zwischen den drei Protagonisten. Während Jeannine Hirzel und Johannes Schwärsky ein in seinem Ernst berührendes Wetterwartehepaar geben, mimt Yikun Chung den irren Mörder mit eindringlicher Gestik und mächtigem Tenor. Der sechsköpfige Chor (Marcel Fässler, Manfred Plomer, Jean Bermes, Maacha Deubner, Isabell Marquardt und Sophia Maeno) meistert seine vielseitige Aufgabe mit Bravour. Arne Willimczik koordiniert das mit Mitgliedern der Südwestdeutschen Philharmonie Konstanz sowie den beiden Komponisten solistisch besetzte Orchester mit umsichtiger Hand, so dass das Schroffe und das Heimelige entsprechende klangliche Kontur erhalten.

Opernglas Juli/August 2011 von W. Kutschbach

Rundblick: Mord auf dem Säntis

Egal, wie die Nachwelt über das im Rahmen des Bodensee-Festivals 2011 gezeigte Werk befinden wird: Eine Opernuraufführung auf dem 2502 Meter hohen Säntis, dem Parade-Aussichtsberg der Ostschweiz, ist allein schon wegen der Höhe kaum zu toppen. Ausschlaggebend für diesen exponierten Aufführungsort waren die Nachforschungen des um innovative Ideen nie verlegenen Intendanten des Theater Konstanz, Prof. Dr. Christoph Nix. Hier in der benachbarten Schweiz, im Appenzeller Land, hat der 57-jährige Kulturmanager zu seinem ursprünglichen Beruf als Jurist, Strafverteidiger und Universitätsgelehrter im Strafrecht zurückgefunden. Denn im Februar 1922 war auf dem seit 1882 als Wetterbeobachtungsstation eingerichteten Gipfel der Mord an dem Wetterwarte-Ehepaar Heinrich und Maria Haas geschehen. Wenngleich der aus Bayern stammende Schustergeselle Gregor Anton Kreuzpointner drei Wochen später in einer Alphütte erhängt aufgefunden wurde und somit als mutmaßlicher Täter gilt, gänzlich konnte der Mord nie aufgeklärt werden. Kein Wunder also, dass dieser Kriminalfall Markus Imhoof 1992 zum Film „Der Berg“ gereizt hatte und nun den Strafrechtler Nix zum Verfassen eines Librettos.

Hierin wird das Geschehen auf verschiedenen Ebenen behandelt: einerseits als reales Ereignis am Berg, andererseits als sozialkritische Beleuchtung der ungelösten Fragen aus heutiger Sicht. Im Schlussteil wird über das nie aufgetauchte Spendengeld für die Kinder der Opfer, die Vorgehensweise der Behörden und im Sinne Brechts über „arm gegen reich“ sinniert. Auch die Vertonung durch zwei Komponisten für die einstündige Kammeroper erstaunt, handelt es sich doch um den in der Zwölftontechnik beheimateten Friedrich Schenker und den ortsansässigen Noldi Alder, einen Musiker, der mit der Schweizer Volksmusik und deren Erneuerung verbunden ist. Obgleich in den voneinander abgegrenzten Szenen die verschiedenen Kompositionsstile deutlich hörbar werden, bleibt der Eindruck eines einheitlichen Werks gewahrt. Ähnlich einer leitmotivischen oder melodischen Zuordnung sorgt hier die Handschrift des jeweiligen Komponisten für die Charakterisierung von Personen und Situationen, deutlich bereits in den dissonanten Klängen (Schenker) beim Eintritt Kreuzpointers in die klanglich von Alder untermalte ländliche Idylle des Wetterwarte-Ehepaares. Zum Vorteil gereichte der Produktion, die viermal am Säntis und einmal im Theater Konstanz gezeigt wurde, die überwiegend gute Textverständlichkeit auch ohne Übertitel.

In der ausverkauften Panoramahalle der gigantischen Bergstation setzte Regisseurin Jasmina Hadziahmetovic die verschiedenen Ebenen des Textes kongenial um. Reales und kommentierendes Geschehen waren als solches erkennbar, und selbst die drei Chormitglieder als gerichtsmedizinische Assistentinnen und Teilnehmer am Fastnachtstreiben waren gekonnt geführt. Hella Prokoph hatte mit weißem Boden und als Projektionsfläche dienendem Hintergrund sowie verstreuten Gerichtsakten den adäquaten Schauplatz geschaffen und mit den Kostümen für eine signifikante Charakterisierung der Personen, aber auch für bunte Optik in der Fastnachtsszene gesorgt. Die Schweizerin Jeannine Hirzel bewies ihre Vorliebe für zeitgenössische Musik und gefiel mit hellem Sopran sowohl als Maria Haas als auch in der Sagenfigur des Sennentunschi, das im vielleicht stärksten Moment der Aufführung ihren Zopf um den Hals von Kreuzpointner legt, nachdem dieser mit Schubertschen Klängen Abschied von der Welt genommen hat. Als Heinrich Haas ließ Johannes Schwärsky einen ausnehmend schön und weich timbrierten Bariton vernehmen. Der in Aachen engagierte koreanische Tenor Yikun Chung erfüllte die anspruchsvoll notierte Partie des hier als psychisch gestört gezeichneten Kreuzpointners hervorragend, und er signalisierte auch optisch den fremden bajuwarischen Eindringling ins Appenzeller Land. Die weiteren Protagonisten, Tenor Marcel Fässler und Bariton Manfred Plomer als Pathologen sowie Bass Jean Bermes als Telegrafenmeister Oertli und Zubenbühler bereicherten überzeugend die Handlung und sprengten damit fast den Rahmen einer Kammeroper. Arne Willimczik leitete den elfköpfigen Orchesterapparat der Südwestdeutschen Philharmonie mit Streichertrio und Bläsern links sowie Schlagzeug und
Hackbrett rechts der Spielfläche. Hierbei kamen die beiden Komponisten selbst zum Einsatz: Noldi Alder mit Hackbrett und Naturjodel sowie Friedrich Schenker mit Posaune und Alphorn. Insgesamt ein kurzweiliger Opernabend in imposanter Bergkulisse, verbunden mit der Erkenntnis, dass unterschiedliche Musiksprachen über Genregrenzen hinaus doch zu einer stimmigen Einheit zusammengeführt werden können.

Schwäbische Zeitung, 06.06.2011 von Christel Voith

Jodler in der Zwölftonmusik
Theater Konstanz feiert Uraufführung von Kammeroper auf dem Säntis

Es ist schon etwas Ungewöhnliches, wenn man mit der Seilhahn zur Uraufführung in 2502 Metern Höhe fährt und dort zuerst inmitten der gewaltigen Bergwelt dem Spiel der Wolken folgt, die bald ihre Schleusen öffnen werden. Ebenso ungewöhnlich ist die vom Theater Konstanz in Auftrag gegebene Kammeroper über ein Ereignis, das eben da, auf dem Gipfel des Säntis stattgefunden hat. Dem „Mord auf dein Säntis“ so der Titel, sind im März 1922 der Wetterwart Heinrich Haas und seine Frau zum Opfer gefallen. In monatelanger Einsamkeit lebten sie dort oben und morsten ihre Berichte ins Tal, bis diese ausblieben und man ihre Leichen entdeckte. Der mutmaßliche Mörder Gregor Anton Kreuzpointner hat sich drei Wochen später erhängt, hat er die Geister der Toten nicht mehr ertragen?
Christoph Nix, den Intendanten des Konstanzer Theaters hat der bis heute ungeklärte Mordfall nicht losgelassene, die Motive interessiert, und er hat intensiv recherchiert. Und er spürte: All das Unbewusste. das hier mitschwingt, kann man nur mit Musiktheater erzählen. Er selbst schrieb das Libretto, stellte die drei Hauptfiguren in den Mittelpunkt und gab ihnen einen Chor zur Seite, der erzählt, kommentiert. Wer sollte das in die Urgewalt der Natur eingebettete Morddrama komponieren? Nix gelang es den Zwölftonmusiker Friedrich Schenker, Meisterschüler von Paul Dessau, und den experimentellen Volksmusiker Noldi Alder zu gewinnen – oder besser gesagt, die Oper aufzuteilen, im je eigenen Musikstil frei und unabhängig voneinander zu arbeiten und die Teile ineinanderzufügen. Das geht so weit, dass in der Begegnung Kreutzpointners mit Oertli, der ihn erkennt, Noldi Alder den Ersteren und Schenker den Letzteren komponiert hat. Und doch erscheint die Musik mit all ihren Brüchen und Geheimnissen so selbstverständlich, als könne sie gar nicht anders sein. Ganz leise beginnt das Werk, einzelne Instrumente lassen die Gedanken schweifen, mitten hinein ertönt ein Jodler, und sechs Träger bringen einen Toten, lehnen ihn an die weiße Wand. Still singt die Geige, die Trompete, sie ersterben und ein Hackbrett übernimmt . Projektionen werfen die Zuschauer hinein in den Mordfall, die Musik schreit, ist zerfetzt, da besingt mit inniger Melodie der Chor den Sternenhimmel, die Sänger gehen durch die Reihen, tragen die Stimmung ins Publikum. In einer Rückblende läuft das dramatische Geschehen ab. Die Gier des Täters, die Todesangst der Frau, die Ruhe des Mannes werden greifbar, im dichten Spiel wie in der Musik. Packend, wie die Frau, die wie eine Pieta den sterbenden Mann im Arm hält, ihn wegwerfen muss, da der Täter sie überfällt, packend, wie dessen irrsinniges Lachen in stummen Schrei übergeht, wie er bald in Hexen, die ihn umringen, die Toten zu sehen glaubt, wie er im Arm einer Symbolfigur seinen Tod findet.
Starke Bilder hat die Regisseurin Jasmina Hadžiahmetovic entworfen, starke Präsenz zeigen die Sängerdarsteller Jeannine Hirzel. Johannes Schwärsky und ganz besonders Yikun Chung als in flackerndem Irrsinn handelnder Kreuzpointner. Harmonisch der kleine Chor. Intensiv spielt das kleine Orchester mit Musikern der Südwestdeutschen Philharmonia Konstanz unter Arne Willimczik die anspruchsvolle Partitur,die Komponisten wirken selbst mit: Noldi Alder mit Naturjodel und am Hackbrett, Friedrich Schenker mit
Posaune und Alphorn.

Thurgauer Zeitung, 6. Juni 2011 von Peter Surber

Das Theater Konstanz macht den Säntismord von 1922 zur Kammeroper
Am Samstag war Premiere am Tatort: Auf dem Säntis.

Bei Stütze 2 verschwindet die Welt. Nichts als Wolkengrau rundherum. «Sechsländerblick hatte es geheissen. Und dafür zahlst Du jetzt fünfzig Euro», frotzelt ein Passagier von ennet dem See. Oben reißt der Nebel dann aber auf, östlich lässt sich der Seealpsee kurz blicken, im Süden ein Loch Toggenburg, im Norden nichts als Watte, gegen Westen rasende Wolkentürme. Der Säntis, der Wetterberg. An diesem Samstag zeigt er sich dem feingekleideten Premierenpublikum von der launischen Seite. Viel wilder allerdings hat er sich im Februar 1922 gebärdet.
In Schnee und Sturm tun damals Heinrich und Maria Magdalena Haas hier ihren Dienst als Wetterwart. Noch fährt keine Bahn. Ab 22. Februar bleiben die Wettermeldungen aus, ein paar Tage später steigen zwei Säntisträger hoch und finden die beiden erschossen. Als Mörder verdächtigt wird Gregor Anton Kreuzpointner. Er wird gejagt und wird elf Tage später in Urnäsch erhängt aufgefunden.
Drei Opfer
Auf der improvisierten Schrägbühne in der Panoramahalle der Säntisbahn, im grellen Schneelicht kämpft sich Kreuzpointner mit letzter Kraft durch den Sturm. Die Musik peitscht ihn hoch, «gerettet, gerettet» sind seine ersten Worte. Heinrich und Maria Haas wärmen ihn, «der Mensch des Menschen Freund» singt der Chor optimistisch. Doch Kreuzpointner hat Finsteres im Sinn, er macht sich an Maria heran, lacht ein irres Lachen, greift schliesslich zur Pistole.
Der koreanische Tenor Yikun Chung singt und spielt Kreuzpointner als so stimmgewaltige wie zerrissene Figur. Johannes Schwärskys dunkler Bass gibt dem Heinrich eine sympathische Herzlichkeit, Jeannine Hirzels Maria überzeugt als Leidende ebenso wie später als kalte Rächerin. Maria, wie eine «mater dolorosa» im blauen Schleier, um sie die beiden Männer: Regisseurin Jasmina Hadziahmetovic formt in diesem Herzstück der Oper die drei Figuren zu einem packenden Triptychon, zum Bild des Menschen als Täter wie als Opfer einer Welt, die aus dem Lot ist.

Der Chor der Mittäter
Denn Librettist Christoph Nix hat mehr im Sinn als den blossen Kriminalfall. Warum Kreuzpointner zum Mörder wird, kann auch er zwar nur andeuten. Aber gut brechtisch denkt Nix die Unbill der Verhältnisse mit. Und malt sie in grellen Farben, mit Hilfe des sechsköpfigen, sängerisch brillanten Chors (Marcel Fässler, Manfred Plomer, Jean Bermes, Maacha Deubner, Isabell Maruardt, Sophia Maeno). Szene eins blendet in die Anatomie, wo der Mörder und Selbstmörder gnadenlos seziert wird. Szene vier stürzt Kreuzpointner ins wüste Fasnachtstreiben in St. Gallen, wo ihn die Masken umtaumeln und als Mörder erkennen. Die Schlussszene schliesslich fragt nach der Mit- und Nachschuld der Innerrhoder Honoratioren, die das den Waisenkindern Haas zustehende Geld unterschlagen haben sollen.
Zuvor aber taucht auf dem Ostschweizer Berg der Berge ein ortsfremdes Alpenwesen auf: das Sennentuntschi, eine zur Puppe erstarrte Maria, die dem Kreuzpointner die Schlinge um den Hals legt. Säntismord und Sennentuntschi, Menschheitspathos und Sozialkritik, poetische Zeilen neben schwer singbaren Wortmonstern wie «Telegraphenbürokratenpflicht», Lenin kontra Alpenbitter: Nix packt etwas gar viel in seinen Säntisrucksack, die einstündige Bergtour bringt Ausführende wie Publikum ins Schwitzen und ins Staunen.

Packende Partitur
Überaus dicht und farbenreich ist die Musik, aus der Feder von gleich zwei Komponisten, doch für die je gleiche Besetzung, drei Streicher und viel Blas- und Schlagwerk. Der Ostdeutsche Friedrich Schenker, selber mit Posaune und Alphorn dabei, hat eine sperrige, hochexpressive Zwölftonmusik geschrieben; der Urnäscher Noldi Alder, seinerseits am Hackbrett, entwickelt aus Volkston-Elementen seine nicht minder facettenreiche und vertrackt rhythmische Tonsprache.
Dirigent Arne Willimczik, die Sänger und das Orchester machen diese Partitur zur heimlichen Hauptfigur im atem- und pausenlos sich jagenden Mordsgeschehen – trittsicher und gipfelstürmend bewältigen sie den einen wie den anderen Stil. Schenker und Alder ergänzen sich wie die zwei Ansichten des Säntis, von vorn und von hinten.
Am Schluss reisst der Chor die Papierkulisse weg. Zum Vorschein käme das Hinten: die umwerfende Kulisse der Toggenburger, Glarner und Bündner Alpen. Am Premierenabend allerdings bleibt es hinter den Scheiben Grau in Grau. Der Säntis hat seinen Wetterkopf, bis heute, zum Glück.

3Sat, 06.06.2011 von Sandra Steffan

Drama im Eis
Eine Oper über den „Mord auf dem Säntis“

Karg, schroff und unwegsam – das ist der Berg Säntis. Vor 90 Jahren, 1922, geschah hier ein grausamer Doppelmord: Der Wetterwart Heinrich Haas wurde tot auf dem Gipfelplateau gefunden, seine Frau Lena im Wohnhaus – beide erschossen. Nun wird daraus eine Kammeroper, aufgeführt am Tatort auf dem Gipfel.
„Zu jener Zeit galt der Mord als eines der traurigsten Ereignisse, die je passiert sind‘, sagt der Komponist Noldi Alder, der die Oper „Mord auf dem Säntis‘ als Auftragswerk des Stadttheaters Konstanz geschrieben hat. „Heute hat man es etwas verdrängt. Wetterwart war ein wichtiger Beruf, eine international anerkannte Stelle im Appenzellerland. Wenn jemand hier oben ermordet wird, berührt dies das ganze Volk.“
Im Appenzell kennt die schreckliche Geschichte jedes Kind. Doch keiner weiß, was auf dem Gipfel genau geschah. Nur Weniges ist historisch belegt: 1919 erhielt der Appenzeller Heinrich Haas die angesehene und begehrte Stelle als Wetterwart. Sie bescherte ihm und seiner Frau ein hartes Leben voller Entbehrungen – im Sommer mit den Töchtern, im eiskalten Winter allein. Denn der Gipfelaufstieg in Schnee und Eis war damals kaum möglich.

Es ist ein dramatischer Stoff für Markus Imhoofs Film „Der Berg“: In die Abgeschiedenheit auf dem Säntis dringt im Februar 1922 das Unheilherein. Der Deutsche Gregor Kreuzpointner steigt unter widrigsten Verhältnissen zum Gipfel auf. Auch er hatte sich um die Stelle als Wetterwart beworben. Will er sich rächen für den ihm entgangenen Job? Reizt ihn die Frau? Imhoofs Film inszeniert die schicksalhafte Begegnung auf dem Berg als beklemmendes Kammerspiel – mit Matthias Gnädinger als Wetterwart. ‚Ich bin selbst auch ein Bergler, sagt Noldi Alder. ‚Ich kann das nachvollziehen, dass das brutal gewesen sein muss, wie sich zwischen diesen Leuten über zwei Wochen hinweg immer mehr Spannungen aufbauten – bis einer den Mut hatte, die Pistole zu zücken und die anderen beiden zu töten.“

Die kaltblütige Tat inspirierte den Hackbrettspieler und Komponisten Alder zur Oper Mord auf dem Säntis, die nun in der Ankunftshalle der Säntis-Bahn, nahe dem Tatort, uraufgeführt wird. Es ist herausfordernde Musik für eine verstörende Tat. Alder komponierte sie im Wechsel mit dem deutschen Avantgardisten und Posaunisten Friedrich Schenker. Dessen Zwölftonmusiktrifft auf harmonische Appenzeller Klänge – eine eigenwillige Mischung. Die schroffe Zwölftonmusik beschwört die Boshaftigkeit des Mörders Kreuzpointner. Die Kugeln seiner Pistole soll er sogar präpariert haben, um seine Opfer möglichst schlimm zu verletzen. Er muss im Innersten ein brutaler Mensch gewesen sein, so Alder. Sonst würde er nicht eine Kugel anschleifen, damit Sie noch größere Wunden verursacht. Das hat mich schon beeindruckt. Und ich weiß, wo die Waffe ist,
ich darf aber nicht sagen, wo.
Alders kriminalistisches Insiderwissen wird in der Oper spürbar: Kreuzpointner erschießt das Ehepaar Haas kaltblütig. Nach dem Mord verschwindet er. Eine einsame Skispur führt ins Tal. Steckbrieflich wird er als mutmaßlicher Doppelmörder gesucht. In Appenzell und St. Gallen soll er gesehen worden sein, doch erst elf Tage nach der Tat findet man ihn in einem verlassenen Stall auf der Schwägalp. Er hat sich erhängt. So entgeht er wohl einer Verurteilung zum Tode. Tathergang und Motiv bleiben im Dunkeln, es ranken sich Legenden um den Doppelmord. Umso erstaunlicher ist, dass er erst jetzt auf die Bühne kommt – und erst auf Initiative von Deutschen.

Niemand hatte so richtig den Mut, das zu schreiben, so Alder. Es gab verschiedene Gründe. Einer davon war, dass die Kinder des Ehepaars Haas noch lebten. Niemand wollte das Thema anpacken. Die Grabsteine stehen noch immer in Appenzell. Einerseits ist es eine Touristenattraktion, andererseits war es gut, dass niemand ernsthaft recherchiert. So konnte man noch die eigenen Märchen erfinden. Das Erfinden eigener Märchen hat bei der Verarbeitung nicht geholfen. Die Appenzeller tun sich heute noch schwer mit der Geschichte, auch nach 90 Jahren. Immerhin erinnert ein Gedenkstein an den rätselhaften Mord auf dem Säntis.


Züricher Zeitung (NZZ), 09.06.2011 von Jürg Huber

Überfülle und Expressivität

„Mord auf dem Säntis“ als Kammeroper
Ausgesprochen lieblich präsentiert sich das Appenzellerland mit seinen saftiggrünen Hügeln und den schmucken „Hemetli“. Schroff hebt sich dahinter die erste Kalkkette des Säntismassivs ab. Im weitläufigen und geheizten Komplex der Bergstation der Säntisbahn ist jedoch nur zu ahnen, wie einsam und entbehrungsreich ein Winter auf der alten Wetterstation war, der dem Wetterwartpaar Heinrich und Helena Haus im Februar 1922 zum Verhängnis wurde. Die Geschichte ihrer Ermordung wühlte damals die Gemüter auf und ist bis heute im kollektiven Gedächtnis haften geblieben.

Der Librettist auf Spurensuche
Vor rund zwanzig Jahren war die dramatische Begebenheit Grundlage für Markus Imhoofs Filmdrama „Der Berg“; nun ist sie Stoff für die einstündige Kammeroper „Mord auf dem Säntis» geworden, die das Theater Konstanz im Rahmen des Bodenseefestivals produzierte und die unweit des Tatortes im Panoramasaal des Säntisrestaurants Premiere hatte.
Christoph Nix, Intendant des Konstanzer Theaters und Jurist, hat sich dafür nochmals auf Spurensuche gemacht, hat Gerichtsakten studiert und Indizien gesammelt. Den Fall aufklären konnte auch er nicht, denn der mutmassliche Mörder Gregor Anton Kreuzpointner hatte sich durch Suizid der Justiz entzogen. Aber er konnte Geschichten erfinden, und als Librettist tat er dies nicht zu knapp. In brechtschem Duktus verbindet Nix Privates und Politisches, Zeitgeschichte und Allzumenschliches.
Für die Überfälle an Motiven findet die Regisseurin Jasmina Hadziahmetovic zusammen mit der Ausstatterin Hella Prokoph prägnante Bilder, etwa wenn die in der Oper Maria Magdalena genannte Frau des Wetterwarts sich zur Pietà wandelt oder der Mörder in den Armen des offenbar unvermeidlichen Sennentuntschis stirbt. Musikalisch entpuppt sich die „Klassik Night“, wie die Kammeroper von der Säntishahn beworben wird, als ein anspruchsvolles Gemisch von Stilen und Klängen zweier Komponisten, deren künstlerische Sozialisation unterschiedlicher nicht sein könnte: hier der am Fusse des Säntis lebende Noldi Alder aus der berühmten Volksmusikdynastie, dem das traditionelle Korsett zu eng geworden ist, dort der in der DDR aufgewachsene Friedrich Schenker, Meisterschüler von Paul Dessau, für den Politik und Musik nicht zu trennen sind. Sie haben denn auch nicht gemeinsam komponiert, sondern einzelne Abschnitte des Librettos jeweils eigenständig vertont. Wenn Alder zuweilen einen an Schubert und Brahms gemahnenden Wehmutston anschlägt, antwortet ihm Schenker mit den Dissonanzen des 20. Jahrhunderts. Appenzellisches hat seinen Platz- der Naturjodel, den Alder beim Hereintragen von Kreuzpointners Leiche in der ersten Szene intoniert. fährt mitten ins Herz-, wirkt jedoch nie anbiedernd, sondern ist in eine äußerst expressive Dramaturgie eingebunden, die die Gräben zwischen den Musiksprachen überraschend leicht überbrückt.

Überzeugende Interpretation
Ebenso intensiv entwickelt sich das Beziehungsdrama zwischen den drei Protagonisten. Während Jeannine Hirzel und Johannes Schwärsky ein in seinem Ernst berührendes Wetterwartehepaar geben, mimt Yikun Chung den irren Mörder mit eindringlicher Gestik und mächtigem Tenor. Der sechsköpfige Chor (Marcel Fässler, Manfred Plomer, Jean Bermes, Maacha Deubner, Isabell Marquardt und Sophia Maeno) meistert seine vielseitige Aufgabe mit Bravour. Arne Willimczik koordiniert das mit Mitgliedern der Südwestdeutschen Philharmonie Konstanz sowie den beiden Komponisten solistisch besetzte Orchester mit umsichtiger Hand, so dass das Schroffe und das Heimelige entsprechende klangliche Kontur erhalten.

Opernglas Juli/August 2011 von W. Kutschbach

Rundblick: Mord auf dem Säntis

Egal, wie die Nachwelt über das im Rahmen des Bodensee-Festivals 2011 gezeigte Werk befinden wird: Eine Opernuraufführung auf dem 2502 Meter hohen Säntis, dem Parade-Aussichtsberg der Ostschweiz, ist allein schon wegen der Höhe kaum zu toppen. Ausschlaggebend für diesen exponierten Aufführungsort waren die Nachforschungen des um innovative Ideen nie verlegenen Intendanten des Theater Konstanz, Prof. Dr. Christoph Nix. Hier in der benachbarten Schweiz, im Appenzeller Land, hat der 57-jährige Kulturmanager zu seinem ursprünglichen Beruf als Jurist, Strafverteidiger und Universitätsgelehrter im Strafrecht zurückgefunden. Denn im Februar 1922 war auf dem seit 1882 als Wetterbeobachtungsstation eingerichteten Gipfel der Mord an dem Wetterwarte-Ehepaar Heinrich und Maria Haas geschehen. Wenngleich der aus Bayern stammende Schustergeselle Gregor Anton Kreuzpointner drei Wochen später in einer Alphütte erhängt aufgefunden wurde und somit als mutmaßlicher Täter gilt, gänzlich konnte der Mord nie aufgeklärt werden. Kein Wunder also, dass dieser Kriminalfall Markus Imhoof 1992 zum Film „Der Berg“ gereizt hatte und nun den Strafrechtler Nix zum Verfassen eines Librettos.

Hierin wird das Geschehen auf verschiedenen Ebenen behandelt: einerseits als reales Ereignis am Berg, andererseits als sozialkritische Beleuchtung der ungelösten Fragen aus heutiger Sicht. Im Schlussteil wird über das nie aufgetauchte Spendengeld für die Kinder der Opfer, die Vorgehensweise der Behörden und im Sinne Brechts über „arm gegen reich“ sinniert. Auch die Vertonung durch zwei Komponisten für die einstündige Kammeroper erstaunt, handelt es sich doch um den in der Zwölftontechnik beheimateten Friedrich Schenker und den ortsansässigen Noldi Alder, einen Musiker, der mit der Schweizer Volksmusik und deren Erneuerung verbunden ist. Obgleich in den voneinander abgegrenzten Szenen die verschiedenen Kompositionsstile deutlich hörbar werden, bleibt der Eindruck eines einheitlichen Werks gewahrt. Ähnlich einer leitmotivischen oder melodischen Zuordnung sorgt hier die Handschrift des jeweiligen Komponisten für die Charakterisierung von Personen und Situationen, deutlich bereits in den dissonanten Klängen (Schenker) beim Eintritt Kreuzpointers in die klanglich von Alder untermalte ländliche Idylle des Wetterwarte-Ehepaares. Zum Vorteil gereichte der Produktion, die viermal am Säntis und einmal im Theater Konstanz gezeigt wurde, die überwiegend gute Textverständlichkeit auch ohne Übertitel.

In der ausverkauften Panoramahalle der gigantischen Bergstation setzte Regisseurin Jasmina Hadziahmetovic die verschiedenen Ebenen des Textes kongenial um. Reales und kommentierendes Geschehen waren als solches erkennbar, und selbst die drei Chormitglieder als gerichtsmedizinische Assistentinnen und Teilnehmer am Fastnachtstreiben waren gekonnt geführt. Hella Prokoph hatte mit weißem Boden und als Projektionsfläche dienendem Hintergrund sowie verstreuten Gerichtsakten den adäquaten Schauplatz geschaffen und mit den Kostümen für eine signifikante Charakterisierung der Personen, aber auch für bunte Optik in der Fastnachtsszene gesorgt. Die Schweizerin Jeannine Hirzel bewies ihre Vorliebe für zeitgenössische Musik und gefiel mit hellem Sopran sowohl als Maria Haas als auch in der Sagenfigur des Sennentunschi, das im vielleicht stärksten Moment der Aufführung ihren Zopf um den Hals von Kreuzpointner legt, nachdem dieser mit Schubertschen Klängen Abschied von der Welt genommen hat. Als Heinrich Haas ließ Johannes Schwärsky einen ausnehmend schön und weich timbrierten Bariton vernehmen. Der in Aachen engagierte koreanische Tenor Yikun Chung erfüllte die anspruchsvoll notierte Partie des hier als psychisch gestört gezeichneten Kreuzpointners hervorragend, und er signalisierte auch optisch den fremden bajuwarischen Eindringling ins Appenzeller Land. Die weiteren Protagonisten, Tenor Marcel Fässler und Bariton Manfred Plomer als Pathologen sowie Bass Jean Bermes als Telegrafenmeister Oertli und Zubenbühler bereicherten überzeugend die Handlung und sprengten damit fast den Rahmen einer Kammeroper. Arne Willimczik leitete den elfköpfigen Orchesterapparat der Südwestdeutschen Philharmonie mit Streichertrio und Bläsern links sowie Schlagzeug und
Hackbrett rechts der Spielfläche. Hierbei kamen die beiden Komponisten selbst zum Einsatz: Noldi Alder mit Hackbrett und Naturjodel sowie Friedrich Schenker mit Posaune und Alphorn. Insgesamt ein kurzweiliger Opernabend in imposanter Bergkulisse, verbunden mit der Erkenntnis, dass unterschiedliche Musiksprachen über Genregrenzen hinaus doch zu einer stimmigen Einheit zusammengeführt werden können.

Schwäbische Zeitung, 06.06.2011 von Christel Voith

Jodler in der Zwölftonmusik
Theater Konstanz feiert Uraufführung von Kammeroper auf dem Säntis

Es ist schon etwas Ungewöhnliches, wenn man mit der Seilhahn zur Uraufführung in 2502 Metern Höhe fährt und dort zuerst inmitten der gewaltigen Bergwelt dem Spiel der Wolken folgt, die bald ihre Schleusen öffnen werden. Ebenso ungewöhnlich ist die vom Theater Konstanz in Auftrag gegebene Kammeroper über ein Ereignis, das eben da, auf dem Gipfel des Säntis stattgefunden hat. Dem „Mord auf dein Säntis“ so der Titel, sind im März 1922 der Wetterwart Heinrich Haas und seine Frau zum Opfer gefallen. In monatelanger Einsamkeit lebten sie dort oben und morsten ihre Berichte ins Tal, bis diese ausblieben und man ihre Leichen entdeckte. Der mutmaßliche Mörder Gregor Anton Kreuzpointner hat sich drei Wochen später erhängt, hat er die Geister der Toten nicht mehr ertragen?
Christoph Nix, den Intendanten des Konstanzer Theaters hat der bis heute ungeklärte Mordfall nicht losgelassene, die Motive interessiert, und er hat intensiv recherchiert. Und er spürte: All das Unbewusste. das hier mitschwingt, kann man nur mit Musiktheater erzählen. Er selbst schrieb das Libretto, stellte die drei Hauptfiguren in den Mittelpunkt und gab ihnen einen Chor zur Seite, der erzählt, kommentiert. Wer sollte das in die Urgewalt der Natur eingebettete Morddrama komponieren? Nix gelang es den Zwölftonmusiker Friedrich Schenker, Meisterschüler von Paul Dessau, und den experimentellen Volksmusiker Noldi Alder zu gewinnen – oder besser gesagt, die Oper aufzuteilen, im je eigenen Musikstil frei und unabhängig voneinander zu arbeiten und die Teile ineinanderzufügen. Das geht so weit, dass in der Begegnung Kreutzpointners mit Oertli, der ihn erkennt, Noldi Alder den Ersteren und Schenker den Letzteren komponiert hat. Und doch erscheint die Musik mit all ihren Brüchen und Geheimnissen so selbstverständlich, als könne sie gar nicht anders sein. Ganz leise beginnt das Werk, einzelne Instrumente lassen die Gedanken schweifen, mitten hinein ertönt ein Jodler, und sechs Träger bringen einen Toten, lehnen ihn an die weiße Wand. Still singt die Geige, die Trompete, sie ersterben und ein Hackbrett übernimmt . Projektionen werfen die Zuschauer hinein in den Mordfall, die Musik schreit, ist zerfetzt, da besingt mit inniger Melodie der Chor den Sternenhimmel, die Sänger gehen durch die Reihen, tragen die Stimmung ins Publikum. In einer Rückblende läuft das dramatische Geschehen ab. Die Gier des Täters, die Todesangst der Frau, die Ruhe des Mannes werden greifbar, im dichten Spiel wie in der Musik. Packend, wie die Frau, die wie eine Pieta den sterbenden Mann im Arm hält, ihn wegwerfen muss, da der Täter sie überfällt, packend, wie dessen irrsinniges Lachen in stummen Schrei übergeht, wie er bald in Hexen, die ihn umringen, die Toten zu sehen glaubt, wie er im Arm einer Symbolfigur seinen Tod findet.
Starke Bilder hat die Regisseurin Jasmina Hadžiahmetovic entworfen, starke Präsenz zeigen die Sängerdarsteller Jeannine Hirzel. Johannes Schwärsky und ganz besonders Yikun Chung als in flackerndem Irrsinn handelnder Kreuzpointner. Harmonisch der kleine Chor. Intensiv spielt das kleine Orchester mit Musikern der Südwestdeutschen Philharmonia Konstanz unter Arne Willimczik die anspruchsvolle Partitur,die Komponisten wirken selbst mit: Noldi Alder mit Naturjodel und am Hackbrett, Friedrich Schenker mit
Posaune und Alphorn.

Thurgauer Zeitung, 6. Juni 2011 von Peter Surber

Das Theater Konstanz macht den Säntismord von 1922 zur Kammeroper
Am Samstag war Premiere am Tatort: Auf dem Säntis.

Bei Stütze 2 verschwindet die Welt. Nichts als Wolkengrau rundherum. «Sechsländerblick hatte es geheissen. Und dafür zahlst Du jetzt fünfzig Euro», frotzelt ein Passagier von ennet dem See. Oben reißt der Nebel dann aber auf, östlich lässt sich der Seealpsee kurz blicken, im Süden ein Loch Toggenburg, im Norden nichts als Watte, gegen Westen rasende Wolkentürme. Der Säntis, der Wetterberg. An diesem Samstag zeigt er sich dem feingekleideten Premierenpublikum von der launischen Seite. Viel wilder allerdings hat er sich im Februar 1922 gebärdet.
In Schnee und Sturm tun damals Heinrich und Maria Magdalena Haas hier ihren Dienst als Wetterwart. Noch fährt keine Bahn. Ab 22. Februar bleiben die Wettermeldungen aus, ein paar Tage später steigen zwei Säntisträger hoch und finden die beiden erschossen. Als Mörder verdächtigt wird Gregor Anton Kreuzpointner. Er wird gejagt und wird elf Tage später in Urnäsch erhängt aufgefunden.
Drei Opfer
Auf der improvisierten Schrägbühne in der Panoramahalle der Säntisbahn, im grellen Schneelicht kämpft sich Kreuzpointner mit letzter Kraft durch den Sturm. Die Musik peitscht ihn hoch, «gerettet, gerettet» sind seine ersten Worte. Heinrich und Maria Haas wärmen ihn, «der Mensch des Menschen Freund» singt der Chor optimistisch. Doch Kreuzpointner hat Finsteres im Sinn, er macht sich an Maria heran, lacht ein irres Lachen, greift schliesslich zur Pistole.
Der koreanische Tenor Yikun Chung singt und spielt Kreuzpointner als so stimmgewaltige wie zerrissene Figur. Johannes Schwärskys dunkler Bass gibt dem Heinrich eine sympathische Herzlichkeit, Jeannine Hirzels Maria überzeugt als Leidende ebenso wie später als kalte Rächerin. Maria, wie eine «mater dolorosa» im blauen Schleier, um sie die beiden Männer: Regisseurin Jasmina Hadziahmetovic formt in diesem Herzstück der Oper die drei Figuren zu einem packenden Triptychon, zum Bild des Menschen als Täter wie als Opfer einer Welt, die aus dem Lot ist.

Der Chor der Mittäter
Denn Librettist Christoph Nix hat mehr im Sinn als den blossen Kriminalfall. Warum Kreuzpointner zum Mörder wird, kann auch er zwar nur andeuten. Aber gut brechtisch denkt Nix die Unbill der Verhältnisse mit. Und malt sie in grellen Farben, mit Hilfe des sechsköpfigen, sängerisch brillanten Chors (Marcel Fässler, Manfred Plomer, Jean Bermes, Maacha Deubner, Isabell Maruardt, Sophia Maeno). Szene eins blendet in die Anatomie, wo der Mörder und Selbstmörder gnadenlos seziert wird. Szene vier stürzt Kreuzpointner ins wüste Fasnachtstreiben in St. Gallen, wo ihn die Masken umtaumeln und als Mörder erkennen. Die Schlussszene schliesslich fragt nach der Mit- und Nachschuld der Innerrhoder Honoratioren, die das den Waisenkindern Haas zustehende Geld unterschlagen haben sollen.
Zuvor aber taucht auf dem Ostschweizer Berg der Berge ein ortsfremdes Alpenwesen auf: das Sennentuntschi, eine zur Puppe erstarrte Maria, die dem Kreuzpointner die Schlinge um den Hals legt. Säntismord und Sennentuntschi, Menschheitspathos und Sozialkritik, poetische Zeilen neben schwer singbaren Wortmonstern wie «Telegraphenbürokratenpflicht», Lenin kontra Alpenbitter: Nix packt etwas gar viel in seinen Säntisrucksack, die einstündige Bergtour bringt Ausführende wie Publikum ins Schwitzen und ins Staunen.

Packende Partitur
Überaus dicht und farbenreich ist die Musik, aus der Feder von gleich zwei Komponisten, doch für die je gleiche Besetzung, drei Streicher und viel Blas- und Schlagwerk. Der Ostdeutsche Friedrich Schenker, selber mit Posaune und Alphorn dabei, hat eine sperrige, hochexpressive Zwölftonmusik geschrieben; der Urnäscher Noldi Alder, seinerseits am Hackbrett, entwickelt aus Volkston-Elementen seine nicht minder facettenreiche und vertrackt rhythmische Tonsprache.
Dirigent Arne Willimczik, die Sänger und das Orchester machen diese Partitur zur heimlichen Hauptfigur im atem- und pausenlos sich jagenden Mordsgeschehen – trittsicher und gipfelstürmend bewältigen sie den einen wie den anderen Stil. Schenker und Alder ergänzen sich wie die zwei Ansichten des Säntis, von vorn und von hinten.
Am Schluss reisst der Chor die Papierkulisse weg. Zum Vorschein käme das Hinten: die umwerfende Kulisse der Toggenburger, Glarner und Bündner Alpen. Am Premierenabend allerdings bleibt es hinter den Scheiben Grau in Grau. Der Säntis hat seinen Wetterkopf, bis heute, zum Glück.

3Sat, 06.06.2011 von Sandra Steffan

Drama im Eis
Eine Oper über den „Mord auf dem Säntis“

Karg, schroff und unwegsam – das ist der Berg Säntis. Vor 90 Jahren, 1922, geschah hier ein grausamer Doppelmord: Der Wetterwart Heinrich Haas wurde tot auf dem Gipfelplateau gefunden, seine Frau Lena im Wohnhaus – beide erschossen. Nun wird daraus eine Kammeroper, aufgeführt am Tatort auf dem Gipfel.
„Zu jener Zeit galt der Mord als eines der traurigsten Ereignisse, die je passiert sind‘, sagt der Komponist Noldi Alder, der die Oper „Mord auf dem Säntis‘ als Auftragswerk des Stadttheaters Konstanz geschrieben hat. „Heute hat man es etwas verdrängt. Wetterwart war ein wichtiger Beruf, eine international anerkannte Stelle im Appenzellerland. Wenn jemand hier oben ermordet wird, berührt dies das ganze Volk.“
Im Appenzell kennt die schreckliche Geschichte jedes Kind. Doch keiner weiß, was auf dem Gipfel genau geschah. Nur Weniges ist historisch belegt: 1919 erhielt der Appenzeller Heinrich Haas die angesehene und begehrte Stelle als Wetterwart. Sie bescherte ihm und seiner Frau ein hartes Leben voller Entbehrungen – im Sommer mit den Töchtern, im eiskalten Winter allein. Denn der Gipfelaufstieg in Schnee und Eis war damals kaum möglich.

Es ist ein dramatischer Stoff für Markus Imhoofs Film „Der Berg“: In die Abgeschiedenheit auf dem Säntis dringt im Februar 1922 das Unheilherein. Der Deutsche Gregor Kreuzpointner steigt unter widrigsten Verhältnissen zum Gipfel auf. Auch er hatte sich um die Stelle als Wetterwart beworben. Will er sich rächen für den ihm entgangenen Job? Reizt ihn die Frau? Imhoofs Film inszeniert die schicksalhafte Begegnung auf dem Berg als beklemmendes Kammerspiel – mit Matthias Gnädinger als Wetterwart. ‚Ich bin selbst auch ein Bergler, sagt Noldi Alder. ‚Ich kann das nachvollziehen, dass das brutal gewesen sein muss, wie sich zwischen diesen Leuten über zwei Wochen hinweg immer mehr Spannungen aufbauten – bis einer den Mut hatte, die Pistole zu zücken und die anderen beiden zu töten.“

Die kaltblütige Tat inspirierte den Hackbrettspieler und Komponisten Alder zur Oper Mord auf dem Säntis, die nun in der Ankunftshalle der Säntis-Bahn, nahe dem Tatort, uraufgeführt wird. Es ist herausfordernde Musik für eine verstörende Tat. Alder komponierte sie im Wechsel mit dem deutschen Avantgardisten und Posaunisten Friedrich Schenker. Dessen Zwölftonmusiktrifft auf harmonische Appenzeller Klänge – eine eigenwillige Mischung. Die schroffe Zwölftonmusik beschwört die Boshaftigkeit des Mörders Kreuzpointner. Die Kugeln seiner Pistole soll er sogar präpariert haben, um seine Opfer möglichst schlimm zu verletzen. Er muss im Innersten ein brutaler Mensch gewesen sein, so Alder. Sonst würde er nicht eine Kugel anschleifen, damit Sie noch größere Wunden verursacht. Das hat mich schon beeindruckt. Und ich weiß, wo die Waffe ist,
ich darf aber nicht sagen, wo.
Alders kriminalistisches Insiderwissen wird in der Oper spürbar: Kreuzpointner erschießt das Ehepaar Haas kaltblütig. Nach dem Mord verschwindet er. Eine einsame Skispur führt ins Tal. Steckbrieflich wird er als mutmaßlicher Doppelmörder gesucht. In Appenzell und St. Gallen soll er gesehen worden sein, doch erst elf Tage nach der Tat findet man ihn in einem verlassenen Stall auf der Schwägalp. Er hat sich erhängt. So entgeht er wohl einer Verurteilung zum Tode. Tathergang und Motiv bleiben im Dunkeln, es ranken sich Legenden um den Doppelmord. Umso erstaunlicher ist, dass er erst jetzt auf die Bühne kommt – und erst auf Initiative von Deutschen.

Niemand hatte so richtig den Mut, das zu schreiben, so Alder. Es gab verschiedene Gründe. Einer davon war, dass die Kinder des Ehepaars Haas noch lebten. Niemand wollte das Thema anpacken. Die Grabsteine stehen noch immer in Appenzell. Einerseits ist es eine Touristenattraktion, andererseits war es gut, dass niemand ernsthaft recherchiert. So konnte man noch die eigenen Märchen erfinden. Das Erfinden eigener Märchen hat bei der Verarbeitung nicht geholfen. Die Appenzeller tun sich heute noch schwer mit der Geschichte, auch nach 90 Jahren. Immerhin erinnert ein Gedenkstein an den rätselhaften Mord auf dem Säntis.