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Hühner. Habichte

(Bühne, Kostüm)
Text: Charlotte Roos (UA)
Regie: Teresa Kolbe
Theater St. Gallen / Studio
Premiere: 08.01.10

St. Galler Tagblatt von Brigitte Schmid-Gugler

11.01.2010

Scharren am inneren Notstand

Im Studio des Theaters St. Gallen wurde „Hühner.Habichte“ uraufgeführt. Das Stück der Berliner Autorin Charlotte Roos gewann an den letztjährigen Autorentagen sowohl den Publikumspreis als auch den Preis der Jury.

Hühner, diese domestizierten Vögel- ihr wissenschaftlicher Name lautet übrigens Gallus Gallus Domesticus – sind Schlachttiere. Sie werden mit ihren längst zu Stummeln mutierten Flügeln im guten Falle in offene Pferche gesetzt und gemästet, im schlechteren Falle als Batteriehühner gehalten. Wer es gut mit ihnen meint, baut ein Ställchen mit hochgelegenen Sitzstangen drin, und wer sich mit ihnen auskennt, legt diese auf gleicher Höhe an, damit die sprichwörtliche Hackordnung, die es nun mal zwischen Hühnern gibt, nicht schon im Stall durchbricht und niedrigere Hühner zu Fall bringt. In „Hühner.Habichte“ hat die Ausstatterin Hella Prokoph diese Sitzordnung nachgebildet. Die Menschen kauern allerdings nicht auf Stangen, sondern auf terrassenförmigen Podesten, nach vorne gerichtet, alles ist immer nach vorne, in den Zuschauerraum gerichtet: Das Spähen, das gegenseitige Belauern das Greifen, das Vermuten, das Beschuldigen, das Angsthaben. Doch hier sind wir noch nicht.

Lisas Eltern sind aus dem Terassenhaus aufs Land gefahren und haben das Hühnergehege samt Tochter in der Stadt zurückgelassen. Sie soll auf des Vaters sorgsam gehütetes Federvieh aufpassen, wird ja wohl nicht zu viel verlangt sein. Das Mädel hat sichs kuschelig eingerichtet, mit weissem, unbeflecktem Hausanzug und rosaroten Söckchen. Doch ihre Ruhe wird alsbald gestört, als ein grosser Vogel, ein Habicht, die kleineren, die Hühner des Vaters attackiert. Und das mitten in der Stadt, im ordentlichen Quartier, im geordneten Hier und Jetzt. Wo der Nachbar, von Berufes wegen ein Experte in Sachen Vogelverscheuchen, ein klares Indiz auf das aus seiner Balance gekippte Ökosystem erkennt, wittert seine hamsternde Ehefrau die Poulet-Schnäppchen. Nichts wie ran an das halb aufgeschnäbelte Federvieh, für ein saftiges Suppenhuhn wird doch wohl noch was dran sein. Die beiden beäugen die Angriffe des Raubvogels aus sicherer Distanz von oben, hinter dem Stubenvorhang der Selbstgenügsamkeit.

Lisas Vater, der telefonisch vom Übergriff des Vogels erfährt, hechelt, schreit und räsoniert: „Meine Hühner“, sein Allerliebstes. Seiner Frau ist kalt, immer kalt draussen auf dem Land, und Lisa, mit den rosa Söckchen in der Stadt, hat sich Vaters frühe Warnung vom rosa ausstaffierten Sarg, in welchem er dereinst liegen würde, wie Ketten um die Füsse gelegt. Sie kommt nicht klar mit dem Hühnermorden und schiebt die Übriggebliebenen in ihrer Verzweiflung in einen Schuhkarton. Max, ihr älterer Bruder und Vater von zwei kleinen Kindern, hilft ihr, das blutige Desaster im Gehege zu beseitigen. Versucht, seine Schwester zu beruhigen und sie davon zu überzeugen, dass ein Vogel ein Vogel ist und einer bleibt. Tot oder lebendig. Doch Lisas Kuschelleben gerät in Aufruhr, die Raubflüge fächern ihre Seelenängste auf, der Vernunft geht’s an die Federn, die Angst krallt sich fest an ihrer Unbekümmertheit.

Teresa Kolbe, 23jährig, die mit „Hühner.Habichte“ ihre erste Regiearbeit vorlegt, hat sich bis auf wenige Textstellen an Charlotte Roos‘ sprachlich dichte und eindringliche Vorlage gehalten. Sie hat sich auf keine zu hoch angesetzten Sitzstangen hinausgelassen, sondern sich auf die Professionalität der sechs Protagonisten verlassen. Sie tragen die Inszenierung, welche, die narrative Ebene abstrahiert, den Naturalismus gänzlich weglässt und auf die Behauptung setzt. Andrea Hallers Lisa lässt hinter ihren grossen staunenden Augen das Aufbegehren gegen Autorität und Bevormundung durchscheinen; Romeo Meyer als ihr Bruder Max – mit rosa Leibchen – gibt das nette pastellfarbene Stück Mensch; Annette Wunsch als Mama (wenn diese sich Klebeband wie Federn aufs Kleid drückt, sich schüttelt und ein Gackern kaum unterdrücken kann, ist das sehr lustig) und Hans Rudolf Spühler als Papa sind die im eigenen Leben Eingezäunten mit brillant gemimter Lebens-(Stadt)flucht; Alexandre Pelichet ist der kühl analysierende Mann von oben; und letzt erwähnt, jedoch ganz besonders herausragend Bettina Schwarz, welche die Frau von oben mit einer gestisch so wunderbar greifenden Habgier spielt, dass es einem mehr wird als wohl im Bauch.

Neben der Tapete und deren vielschichtiger Einsatzmöglichkeit wäre jedes weitere Requisit eines zu viel. Wie ein Bildhauer seine Skulptur bearbeitet, wird sie wie Federn gerupft, zerfleddert, gerissen, geschabt, ausgehöhlt und gar gekaut. Der innere Notstand greift um sich, Lisa liegt bald wie ein Schlapphuhn gegen die Wand, bald nimmt sie sich die Tapete zur letzten Schutzhülle.

Hinter dem kleinbürgerlichen Wohlfühl-Muster erscheint der Käfig; die Projektion der glücklichen Familie mit dem darüber gelegten Orchester-Tanz-Standard ein kläglicher Versuch des Entrinnens. Die Hackordnung der Gallus Domesticus nimmt ihren Lauf, dient dem Selbstzweck; dient dem eigenen Überleben.